Yin Yoga = Faszien Yoga?

Posted: Mai 25, 2016 By: Comment: 1

WAS GENAU MACHT DIESES YIN-YOGA EIGENTLICH MIT DEN FASZIEN? UND WAS MACHT ES NICHT? – ODER: VON GRÜNEM VELTLINER, KANALSCHLEUSEN UND HEIZUNGSFÜHLERN

Sonntag-Abend. Kurz vor dem Tatort. Die Entscheidung steht an, ob ich mich mit Matcha-Limo und rote Beete-Chips (bleiben wir realistisch: einem Glas Weißwein und Schokolade) auf die Couch setze oder mich aufmache zur Yin-Yoga Stunde in meinem Lieblings-Yogastudio.

In meinem Kopf entbrennt eine Diskussion zwischen den Vorzügen von Grünem Veltliner und all den guten Gründen für die Yin-Yoga Einheit. Vielversprechende Argumente wie Faszientraining, Hydration und Traditionelle Chinesische Medizin werden lauter – und lassen mich schließlich statt dem Weinglas die Matte aus dem Schrank holen.

Ein Schritt zurück – Yin-Yoga und Faszien – das haben viele schon einmal gehört. Aber wie hängen diese beiden Begriffe eigentlich zusammen?

 

Was sind Faszien?

Faszien sind Teil des Bindegewebes und verbinden verschiedene Strukturen im Körper miteinander. Sie bestehen vor allem aus Wasser und fasrigen Bestandteilen (den Strukturproteinen Kollagen und Elastin). Faszien spielen eine wichtige Rolle im Bewegungsapparat, dem Stoffwechsel und als Sinnesorgan. Wenn wir uns nicht so bewegen, wie die Faszien das gerne mögen, verkleben die Kollagenfasern im Fasziengewebe – wie ein verfilzter Wollpullover. Die flüssigen Anteile der Faszien fließen dann nicht mehr so frei und Gewebeschichten gleiten nicht mehr mühelos aneinander vorbei. Infolgedessen kann der Körper sogar Schmerzimpulse senden.

 

Was bietet Yin-Yoga?

Yin-Yoga verbindet die Idee des Yin & Yang aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) mit Yoga. Das bekannte Yin & Yang Symbol entstammt der Taoistischen Philosophie, die zwei Komponenten des Lebens definiert: Energie und Substanz.
Yang steht für Energie sowie Begriffe wie Helligkeit, Aktivität, Stärke und Hitze. Yin repräsentiert die Substanz und ist determiniert durch Dunkelheit, Passivität, Empfänglichkeit und Kühle. Yin & Yang bedingen und kontrollieren sich gegenseitig – Ziel ist Balance zwischen den beiden.
Während wir in unserer westlichen Welt vor allem Yang Qualitäten ausgesetzt sind, setzt die Yin-Yoga Praxis einen Fokus auf die Yin Energien und lässt uns in einer statischen Praxis zur Ruhe kommen. Wie tun wir nun mit Yin-Yoga Gutes für unser Fasziengewebe?

 

Yin-Yoga und Hydration

In vielen Artikeln wird vor allem betont, dass beim Halten der Yin-Positionen für mehrere Minuten mit Hilfe der Schwerkraft Feuchtigkeit aus dem Gewebe gepresst wird. Beim Lösen der Asana fließt die verdrängte Flüssigkeit wieder zurück. Die so entstandene Bewegung (ähnlich wie zwischen zwei Kanalschleusen) bezeichnet man als Hydration.

Während die Hydration ein elementarer Bestandteil im Faszientraining ist, ist das längst nicht alles, was beim Yin-Yoga mit den Faszien passiert.

 

Yin-Yoga und sensorisches Verfeinern

Wie bereits erwähnt besteht eine wichtige Aufgabe der Faszien in ihrer Rolle als Sinnes- und Kommunikationsorgan. Im Fasziengewebe findet sich eine Vielzahl von (Mechano-) Rezeptoren. Dies sind Sinneszellen, die Informationen über Zug, Dehnung, Druck oder Vibration im Gewebe weiterleiten (ähnlich wie die Sensoren, welche die Temperatur der Zentralheizung regulieren – nur dass die Heizfühler Informationen über die Temperatur weitergeben).
Wenn wir im Yin-Yoga ganz bewusst und sanft in Körperregionen hineinspüren – dem Körper genau zuhören – so kommunizieren wir mit diesen Rezeptoren. Wir kultivieren unsere Sinneswahrnehmung. Im Faszientraining nennen wir das sensorisches Verfeinern.
Im Yin-Yoga praktizieren wir darüber hinaus ohne uns aufzuwärmen. In kaltem Zustand reagieren die Faszien noch intensiver auf Sinnesreize – sie sind also sensorisch noch mehr auf Zuhören getrimmt. Beim statischen Halten werden allerdings nicht alle der Mechanorezeptoren angesprochen – manche reagieren z.B. auf schnelle Bewegungswechsel (siehe unten).

Aus meiner Sicht stellt das sensorische Verfeinern einen absolut essenziellen Faktor bei der Wirkung von Yin-Yoga auf die Faszien dar und wird häufig unterschätzt. Wann in unserem Alltag nehmen wir uns wirklich Zeit, uns selbst zuzuhören?

 

Yin-Yoga und fasziales Stretching

Faszien- und Yin-Yoga sind nicht identisch, werden aber manchmal miteinander gleichgesetzt. Einer der Unterschiede liegt im Arbeiten mit ganzen Körperlinien begründet.

Einer meiner Lehrer, Tom Myers, entdeckte die sogenannten Anatomischen Zuglinien (engl. „Anatomy Trains“). Diese Zuglinien sind zusammenhängende Faszienbahnen, die verschiedene Körperstrukturen miteinander verbinden – z.B. die gesamte Körperrückseite. Über diese Verbindungen nehmen die Faszien einen großen Einfluss auf unsere Haltung und Bewegung. Wenn wir bestimmte Körperregionen stretchen wollen, sollten wir daher in ganzen Ketten – den Anatomischen Zuglinien – arbeiten, statt nur einen einzelnen Muskel zu dehnen.

Im Yin-Yoga werden ebenfalls ganze Ketten angesprochen – allerdings stehen hier die Meridiane der Traditionellen Chinesischen Medizin im Vordergrund, die auch bei der Akkupunktur verwendet werden. Anatomische Zuglinien und Meridiane weisen zwar Zusammenhänge auf, sind aber nicht identisch. Die Meridiane werden in Yin & Yang Bahnen unterteilt und verkörpern letztlich das gesamte komplexe System der TCM.

Anatomische Zuglinien und Meridiane sind also unterschiedliche Konzepte mit unterschiedlichem Fokus. Während natürlich beide Aspekte in einer Yin-Stunde berücksichtigt werden können, liegt meines Erachtens schon in der Begrifflichkeit Yin-Yoga eine gewisse Schwerpunktsetzung.

Würden wir allein das Stretching von Faszien in den Vordergrund stellen, so sollten wir darüber hinaus weitere Aspekte wie Richtungswechsel und dynamisch-federnde Dehnungen integrieren. So wird das dreidimensionale Netz der Faszien bearbeitet und bestimmte Mechanorezeptoren werden angesprochen, die beim statischen Halten nicht reagieren. Einige dieser Techniken werden im Yin-Yoga nicht berücksichtigt. Das ist auch völlig legitim – nur sollte man sich des Unterschieds bewusst sein, wenn man drüber spricht, dass Yin-Yoga die Faszien dehnt.

 

Elastizität im Faszien-Training

Neben der Hydration, dem sensorischen Verfeinern und dem faszialen Stretching wird im Faszientraining die Elastizität der Faszien gefördert. Wie eine sprungkräftige Gazelle unterstützen die Faszien unseren Bewegungsapparat. Elastizität fördert man am besten mit Bewegungen, die die Elastizität fordern – z.B. mit Sprüngen. Dass diese im Yin-Yoga im Speziellen, aber auch grundsätzlich im Yoga eher weniger vertreten sind, ist selbstredend. Gleichzeitig bedeutet dies, dass Faszien noch etwas mehr brauchen, als nur Yin-Yoga, damit sie gesund und geschmeidig bleiben.

 

And the winner is…

Yin-Yoga beinhaltet viel mehr als Faszien-Yoga.
Und Faszien-Yoga beinhaltet viel mehr als Yin-Yoga.

Hier liegt für mich der Kern: Wenn wir die Begriffe gleichsetzen, werden wir beiden nicht gerecht. Neben Übungsformen wie dem Yin-Yoga lieben es die Faszien, wenn ihre Elastizität gefördert wird und wenn sie mit Federn und Wippen in vielen verschiedenen Bewegungsrichtungen gedehnt werden. Ein Teil des faszialen Trainings, das die Wissenschaft aktuell identifiziert hat, deckt Yin-Yoga hervorragend ab. Aber eben nicht alle Teile.

Dafür bietet Yin-Yoga psycho-physiologische Wirkungsweisen, die im Faszientraining oder Faszien-Yoga womöglich nicht berücksichtigt werden.

Egal ob in der Yin-Yoga Stunde am Sonntagabend nun etwas mehr Fokus auf die Yin- oder Faszienaspekte gelegt wird – der Gewinner, das sind mein Körper und mein Geist. Nach dem Yin-Yoga brauch ich auf jeden Fall noch ein bisschen Hydration – der Grüne Veltliner bleibt für heute aber mal im Kühlschrank!

Comment

  1. Avatar

    Evelyn

    Ich kenne Yin Yoga ein bisschen. Das Faszienyoga bislang nicht, Faszientraining beschränkte sich bislang auf ein paar Übungen mit der Blackroll.. Sehr erhellender und fundierter Artikel. Danke Katja!!