Faszien als Sinnesorgan
FASZIEN ALS SINNESORGAN
Dass Nase, Mund, Ohren und Augen als Sinnesorgane gelten, ist klar. Aber auch deine Faszien sind ein Sinnesorgan! Neben ihrer bedeutenden Rolle für Bewegung und Biomechanik stehen sie nämlich auch eng in Zusammenhang mit dem Nervensystem.
Unser Bindegewebe ist sogar unser größtes Sinnesorgan: Bisher war man davon ausgegangen, dass unsere Haut mit etwa 200 Millionen sensorischen Nervenendigungen und unser Auge mit ca. 126 Millionen sensorischen Nervenendigungen die vordersten Plätze auf der Hitliste einnehmen. Neuesten Berechnungen zufolge hat unser Fasziensystem mit lockerem und straffem Bindegewebe (das sind im Schnitt bei einem Mann ca. 12,5 kg oder 17% des Körpergewichts) in etwa 250 Millionen sensorischer Nervenendigungen und steht damit ganz oben auf dem Siegertreppchen.
ALLES HAT EIN ENDE. NERVENENDIGUNGEN IM FASZIENGEWEBE
Unser fasziales Gewebe ist reich bestückt mit verschiedenen Nervenendigungen. Wir unterscheiden:
- Nervenendigungen, die für das Weiter- und Engerstellen der Blutgefäße zuständig sind (Vasomotoren; für uns auf unserer Yoga-bezogenen Faszienreise nicht ganz so relevant),
- Nervenendigungen, die motorische Impulse vom Gehirn an die Peripherie geben (Motoneuronen, ca. 17%) und
- Nervenendigungen, die sensorischen Input wahrnehmen, also Signale aus dem Körper an Rückenmark und Gehirn senden (sensorische Neuronen, also Sinnesnerven, ca. 43%).
Letztere sind es, die das Fasziengewebe zum Sinnesorgan machen und die uns an dieser Stelle besonders interessieren. Früher ging man davon aus, dass der überwiegende Teil solcher Rezeptoren in den Muskeln selbst zu finden ist. Mittlerweise weiß man, dass ihr Großteil in den faszialen Strukturen zuhause ist. Sensorische Nervenendigungen können verschiedene Impulse wahrnehmen. Sie senden diese Information aus dem Körper („der Peripherie“) an das zentrale Nervensystem (Rückenmark und Gehirn) weiter.
Du kannst dir das vorstellen, wie die Temperaturfühler deiner Zentralheizung. Oder die Fühler einer Schnecke. (Bei der Recherche für diesen Text – ich wollte sicherstellen, dass ich die Ömmelchen mit Augen obendrauf bei den Schnecken biologisch korrekt bezeichne – habe ich gelesen, dass Schnecken nur schwarz-weiß sehen können. Und trotzdem grünen Salat identifizieren können. Die Welt ist ein Mysterium).
Zurück im Text: Wir haben also wesentlich mehr Nervenendigungen, die aufzeichnen, was im Körper so los ist und diese Information an das zentrale Nervensystem senden, als Nerven, die Befehle vom Oberfeldwebel Gehirn an den Körper (die Peripherie) senden. Das Fühlen (die Sensorik) ist also wesentlich besser ausgestattet als das Senden von „Muskelaktions-Befehlen“ vom Gehirn (die Motorik). Das ist durchaus erstaunlich, wenn wir bedenken, was für eine hohe Relevanz dem Gehirn im Allgemeinen bei körperlichen Prozessen zugeschrieben wird.
TAKE-AWAY:
Das Fasziensystem ist ein reiches Sinnesorgan. Die sensorischen Nervenzellen mit ihren Endigungen nehmen Signale aus dem Körper wahr und senden diese Info an Rückenmark und Gehirn.
MECHANOSENSOREN & DIE PROPRIOZEPTION
Von den sensorischen Nerven im myofaszialen Gewebe sind wiederum ca. 25% mit einer klopapier-artigen Schicht umgeben: sie sind „myelinisiert“. (Vielleicht erinnerst du dich daran, als du im Biounterricht Nervenzellen von der Tafel abgemalt hast. Eingezeichnet wurden dabei die Markscheiden. Eine Mark- oder Myelinscheide ist eine lipidreiche Schicht, die die Nervenfaser schützt, isoliert und die Erregungsleitung der Signale beschleunigt).
Myelinisiert sind in unserem Kontext die sogenannten Mechanosensoren, solche Sensoren also, die durch mechanische Verformung wie Druck oder Dehnung aktiviert werden. Sie sind vor allem für unsere Propriozeption besonders wichtig. Zu ihnen gehören Pacini und Ruffini Körperchen sowie Golgi-Rezeptoren.
Pacini Körperchen können schnelle Druckwechsel, Vibrationen und ruckhafte Impulse registrieren. Sie sind z.B. in Muskel-Sehnen-Übergängen, in den Bändern der Wirbelsäule und in den Muskelfaszien zu finden.
Ruffini Körperchen reagieren auf langen Druck, stetige Reize, tangentiale Scherkräfte und schmelzende Dehnungen. Zu finden sind sie z.B. in den Bändern, äußeren Gelenkkapselschichten oder der Hirnhaut.
Golgi Rezeptoren senken die Muskelspannung, wenn viel Belastung auf dem Gewebe ist („autogene Hemmung”) und sind vermehrt an Muskel-Sehnen-Übergängen zu finden.
Ein besonders beeindruckendes Beispiel dafür, dass unsere Bewegung ganz wesentlich von der Propriozeption – also vom Spüren unseres Körpers im Raum – abhängt und nicht nur vom Auslösen der Muskelaktion, ist der Fall von Ian Waterman. Durch einen seltenen Virus wurden seine sensorischen Nervenendigungen in großen Teilen zerstört. Im Speziellen betrifft dies seine Propriozeption. Da sein Gehirn keine Rückmeldung mehr darüber bekommt, wie und wo sich der Körper im Raum bewegt, muss jede seiner Bewegungen bewusst kontrolliert werden. Ein Großteil seiner Bewegungskontrolle erfolgt über die Augen, unterstützt durch starke Willenskraft, Erinnerung daran, wie sich bestimmte Bewegungen früher angefühlt hatten und jahrelanges Üben und Trainieren. Seine Geschichte wurde von BBC mit dem Titel „The man who lost his body“ verfilmt (und ist unter wechselnden Links auf youtube & co zu finden).
Propriozeptive Wahrnehmungen, die von diesen Rezeptoren registriert werden, werden üblicherweise an den primären somatosensiblen Kortex im Gehirn weitergeleitet (das musst du dir nicht unbedingt merken, aber es ist wichtig dies zu erwähnen, weil wir gleich feststellen werden, dass nicht alle Rezeptoren ihre Info dort hinschicken).
Spannend ist auch, dass die Mechanorezeptoren das autonome Nervensystem (Sympathikus und Parasympathikus) beeinflussen können. Sie können so unsere Entspannungsreaktion unterstützen.
TAKE-AWAY:
Die sensorischen Neuronen, die mechanische Bewegung besonders gut aufzeichnen können, sind von einer Markscheide umgeben. Zu ihnen zählen die Ruffini und Pacini Körperchen, sowie die Golgi Rezeptoren. Wenn diese Rezeptoren nicht mehr funktionieren, wird es mit der Bewegung schwer, was das Beispiel „Ian Waterman“ eindrücklich zeigt. Die Mechanorezeptoren können auch Einfluss auf unser autonomes Nervensystem und damit auf unsere Entspannungsreaktion nehmen.