Going deep: Von Exterozeption bis Interozeption

Posted: Februar 14, 2022 By: Comment: 0

Unser Körper-Geist-System wird nicht müde, den ganzen Tag wahrzunehmen.

Wir nehmen wahr, wie der Frühstücks-Kaffee duftet und der Avocado-Toast schmeckt. Wir hören die gewohnt-bekannten Geräusche in unserem Zuhause und sehen, ob die Sonne scheint und der Himmel blau ist. Wir nehmen also wahr, was außerhalb von uns, also extern geschieht. Das nennt man Exterozeption (von lateinisch „extero“ – außen befindlich und „recipere“ – aufnehmen). In den genannten Beispielen helfen uns dabei Nase, Mund, Ohren und Augen. Die „klassischen“ Sinnesorgane also. Dass wir in der Lage sind, unser Außen wahrzunehmen, ist eine gute Sache: So lässt sich vermeiden, dass wir schlecht gewordene Milch trinken oder beim Überqueren der Straße in ein fahrendes Auto laufen. Es lässt sich aber sicher auch argumentieren, dass unsere „westliche Welt“ einen starken Fokus auf diese Außen-Wahrnehmung legt und dass das nicht nur Positives mit sich bringt.

Von aussen nach innen: Aufmerksamkeit als Kontinuum

Im Yoga-Kontext nutzen wir die Exterozeption natürlich auch. Wenn die Yogalehrerin beim Unterrichten mit ihrer Stimme anleitet oder auf deiner Matte vorturnt, nehmen die Schüler dies mit Ohren und Augen wahr.

 

Unsere Wahrnehmung ein Stückchen näher „nach innen“ gerichtet, nennt man Propriozeption (zusammengesetzt aus den lateinischen Begriffen „proprius“ – eigen und „recipere“ – aufnehmen). Propriozeption bezeichnet die Wahrnehmung, wo wir uns im Raum befinden. Turner oder Turmspringer müssen eine besonders gute Propriozeption haben, sonst würden sie beim Salto-Schlagen regelmäßig mit dem Gesicht auf Matte oder Wasseroberfläche landen.

 

Im Yoga arbeiten wir eigentlich ständig mit unserer Propriozeption, wenn wir Asana praktizieren – wir müssen unsere Körperteile koordinieren und benötigen dafür Feedback, wo sich die entsprechenden Teile im Raum befinden. Besonders fordern wir unsere Propriozeption im Yoga heraus, wenn wir Balancen üben – auf den Füßen oder auf den Armen.

Wer gerne Saltos schlägt, hat hoffentlich eine gute Propriozeption.

Wenn wir mit unserer Wahrnehmung ganz ins Innere unseres Körpers zoomen, bezeichnen wir das als Interozeption (lateinisch „inter“ – inmitten und „recipere“ – aufnehmen). Damit gemeint ist die Wahrnehmung von z.B. Hunger, Durst, Übelkeit, Wärme, Atem, Schmerz oder Anspannung. Diese Empfindungen sind für unser Überleben fundamental. Wenn wir Hitze nicht wahrnehmen, könnten wir uns verbrennen. Wenn wir den Zustand unseres Verdauungssystems nicht spüren, könnten wir uns eine Vergiftung einfangen, ohne es zu merken. Fasst man Interozeption ein wenig weiter, zählen auch die Wahrnehmung von Emotionen oder Müdigkeit zu unserer tiefsten Körperwahrnehmung.

 

Dabei ist die Wahrnehmung unseres Innersten über die Zeit außer Mode geraten. Während die Menschen vor 30.000 Jahren im Rahmen von Ritualen ihren Empfindungen und Gefühlen bewusst Raum gaben (z.B. bei Bestattungsritualen), wurde es spätestens im Zuge der Industrialisierung zur Norm, Produktivität über die körperlichen Bedürfnisse zu stellen. Heutzutage starren wir stundenlang auf Bildschirme, ohne auf unsere Körpersignale zu hören (oder, um fair zu bleiben, ohne viel Wahl zu haben, genau hinzuhören, da wir eben Miete und Avocado-Toast finanzieren müssen). Familiäre Situationen sehen heute häufig so aus (ich schreibe diese Zeilen im Jahr 2022), dass wir Home Office, Quarantäne-Situationen und das restliche Leben jonglieren müssen, so dass manche Eltern zu tun haben, überhaupt in Ruhe zur Toilette gehen zu können. Geht die Fähigkeit, den Körper bewusst wahrzunehmen, verloren, finden wir manchmal Verteidigungsstrategien: Wir leugnen unsere Gefühle, („Ich bin gar nicht ängstlich, nur ein klein bisschen nervös!“), intellektualisieren sie („Alle zählen auf mich, ich will sie nicht enttäuschen.“) oder stumpfen unsere Gefühle ab (z.B. indem wir zu viel essen). Praktizieren wir dahingegen „erfolgreiche“ Selbstwahrnehmung, hilft das bei der Verarbeitung schwieriger Gefühle wie Trauer oder Wut, kann das schönen Gefühlen wie Freude einen Boost geben und wir leisten einen wesentlichen Beitrag zu unserer körperlichen und emotionalen Gesundheit.

Im Yogaunterricht können wir interozeptive Empfindungen stärken, indem wir auf das Erspüren von z.B. Wärme oder Kälte, Schwere oder Leichtigkeit hinweisen und -wirken.

 

Dennoch ist keine dieser drei Formen – Exterozeption, Propriozeption, Interozeption – besser als die andere. Vielmehr ist der dynamische Austausch zwischen den drei Ebenen für uns vorteilhaft.

 

TAKE-AWAY:

Wir nehmen permanent wahr – unser außen (Exterozeption), wo wir uns im Raum befinden (Propriozeption) und wie unser Innerstes sich anfühlt (Interozeption).

 

Im nächsten Blogpost werden wir uns auf die Propriozeption und die Interozeption fokussieren. Wir werden uns ansehen, was Faszien mit Proprio- und Interozeption zu tun haben, welche Nervenfasern bzw. -endigungen dafür nötig sind und wie diese im Körper verteilt sind. Und wir werden tiefer eintauchen in die Welt des tief-nach-innen Spürens (also die Interozeption) und an späterer Stelle besprechen, wie wir in der Yogapraxis konkret mit diesem Konzept arbeiten können.